Entschleunigung: Vom kostbaren Gut der Zeit

Die alten Griechen waren großartige Wortschöpfer. Auf dem Marktplatz in Athen wurden einst Begriffe wie Politik und Demokratie, Logik und Theorie, Methode und System erfunden. Und mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Wort Fortschritt. Athen war eine strahlende Stadt. Wiege unserer europäischen Kultur, in jeder Hinsicht Ausdruck von Reichtum und Fülle. Fremdarbeiter aus der halben Welt standen auf den Baugerüsten. Unaufhörlich sprossen neue, herrlichere Tempel, Torbauten, Säulenhallen aus der Erde. Unaufhörlich wurde weitergebaut.  Wie in allen aufstrebenden Kulturen hießen die Koordinaten: “Weiter, höher, schneller, mehr.“

 

"Die Athener haben die Unschuld des Herzens und das köstlichste Gut der Griechen, die innere Zeitlosigkeit, verloren. Ihre einzige Weisheit ist, jeden Zustand zu überholen und fortzuschreiten“, schimpfte Aristophanes, einer der bedeutendsten griechischen Komödiendichter.  Joachim Fernau schreibt in seiner vergnüglich-sarkastischen Geschichte der Griechen: „Der Wahn vom „Fortschritt“ ist, philosophisch gesehen, ein Denkzwang, der aus einer seelischen Erkrankung kommt. Er tritt epidemisch auf, und zwar immer dann, wenn die Lebenskraft eines Volkes sich zu erschöpfen beginnt. Man findet ihn bei jedem Kulturkreis, jedem Volk, jeder Rasse. Dieser Denkzwang ist eine Ersatz-Erscheinung. Die Gehirne der Massenmenschen, die sich, ohne Wachstum oder Erweiterung, sprunghaft emanzipiert haben, verkraften ihr plötzliches Empfinden für große Dimensionen, für Weite, Zeit und Entwicklung nicht; sie verlieren den Halt, sie verlieren das, woran sie sich halten konnten, sie werden halt-los. In dem Wort steckt sehr richtig schon die Bewegung.“

 

Trotz aller Geschäftigkeit, alles fließt. Auch die Zeit. Ja, damals floss die Zeit noch, sie raste noch nicht. Absque sole, absque usu – ohne Sonne, kein Nutzen. Antike Astronomen konnten Jahre und bis zu einem gewissen Grad auch Monate voneinander abgrenzen. Die Messung einheitlicher Stunden dagegen ist eine moderne Erfindung. Heutige Vorstellungen über Pünktlichkeit und ein Leben nach der Uhr wären für diese Menschen unbegreiflich gewesen. Erst seit der Industrialisierung bestimmen mechanische Uhren unseren Lebenstakt. Und das immer rigoroser. Heute messen Computer die Zeit in Nano - , Milliardstelsekunden. Fortschritt heißt nicht mehr nur Bewegung. Fortschritt heißt vor allem unerbittliche Beschleunigung.

 

In den letzten Jahren wurde Geschwindigkeit immer mehr zur höchsten Priorität, unabhängig von Situation, Person oder Aufgabe. Unser Lebenstempo wird permanent schneller. Die Unterscheidung von nah und fern verblasst. Der Raum verschwindet. In der globalen Welt steht alles hier und jetzt zur Verfügung. Gewohnheiten und Lebensstrukturen wandeln sich zunehmend rascher. Aktivitäten, Erlebnisse, zwischenmenschliche Begegnungen und Beziehungen verlaufen oberflächlicher, flüchtiger. Wir tun immer mehr Dinge gleichzeitig und ununterbrochen. Stress, ursprünglich eine Strategie von Körper und Seele, um im Notfall alle Kraftreserven zu mobilisieren, wird zum Dauerzustand. „Speed-Dating“, „coffee to run“ oder mit dem Smartphone allzeit bereit, mit Qualitätssteigerung oder gar Höherentwicklung hat dieses Fortschreiten wenig zu tun.

Zeitlos im Hier und Jetzt

Wer vom Strom der Zeit nicht fortgerissen werden will, setzt der mörderischen Hast die bewusste Entschleunigung entgegen.  „Auszeit“ heißt die neue Überlebenstaktik, ein Begriff ursprünglich aus der Sprache des Sports ( „time out“  ). In einer kritischen Situation wird das Spiel unterbrochen, die Zeit angehalten, die Mannschaft motiviert sich neu. Auszeit oder schöpferische Pause, wie es früher hieß, ist mehr als Freizeit. Sie braucht Distanz. Abstand gewinnen, sich Zeit lassen, zur Ruhe kommen. In sich gehen, sich sammeln, zurückfinden zu sich selbst, zu unserer eigenen inneren Zeit.

 

Unsere Eigenzeit ist eng mit der rechten Gehirnhälfte verbunden. Anders als die rationale linke Hemisphäre, konzentriert sie sich ganz auf die Welt unserer Gefühle. Sie arbeitet intuitiv, subjektiv, ganzheitlich und ohne einen zeitlichen Rahmen. Der Gehirnforscher Jerry Levy drückt es so aus: „Die linke Hälfte denkt analytisch über die Zeit nach, während die rechte Hälfte mit Hilfe des Raumes Verbindungen schafft.“ Und genau hier ist die verlorene Zeitlosigkeit, die Unschuld des Herzens, um die Aristophanes einst trauerte, zu suchen. Jeder Kreative kennt es: In dem Moment wo wir völlig versunken, fasziniert und absorbiert von der Gegenwart im schöpferischen Prozess aufgehen, verflüchtigt sich unser Zeitgefühl. Egal wie schnell das Metronom des Lebens um uns herum schlägt - der Eintritt in den zeitfreien Modus bringt uns zur Ruhe.

 

Der Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi nennt diesen Bewusstseinszustand, in dem man völlig im Hier und Jetzt aufgeht: „Flow“. Ob beim Malen oder Musizieren, während dieses „Flow“ stehen wir scheinbar außerhalb der Zeit. Madeleine L´Engel vergleicht die Konzentration eines Künstlers mit dem Spiel eines Kindes. In einem echten Spiel, das echte Konzentration verlangt, ist das Kind nicht nur außerhalb der Zeit, sondern auch außerhalb seiner selbst.

Würdige die Zeit

In der Musik sind Tempo und Rhythmus zwei verschiedene Dinge. In der Welt der sozialen Zeit sind die Linien dagegen weniger klar gezogen. Der Takt des Lebens, den Menschen an sich selbst erfahren, geht über das Tempo hinaus. Der Takt des Lebens ist ein buntes Arrangement von Kadenzen, von sich ständig ändernden Rhythmen und Sequenzen, von Tönen und Pausen, Zyklen und neuen Impulsen. Das scheinbare Fließen der Zeit wird daher von vielen Physikern und Philosophen als ein subjektives Phänomen oder gar als Illusion angesehen. Man nimmt an, dass es sehr eng mit dem Phänomen des Bewusstseins verknüpft ist. Obwohl unsere erste Reaktion auf äußeren Zeitdruck unwillkürlich im Wunsch nach Verlangsamung besteht, sehen moderne Zeitforscher die Lösung des Dilemmas eher in der Entwicklung unserer Flexibilität. Auf lange Sicht gilt es elastischer zu werden und für jedes menschliche Tun das richtige Maß und Tempo zu finden, und zwar wie Robert Levine sagt, nicht indem wir dem mechanischen Schlag des Metronoms gehorchen, sondern indem wir Satz für Satz das rechte Tempo finden und den Takt nach den geltenden menschlichen Bedürfnissen und Zwecken variieren.“

 

Wie wir unsere Zeit einteilen und nutzen, definiert am Ende die Qualität und die Beschaffenheit unseres Daseins. Das heißt: Aktiv die Kontrolle über die Struktur unserer Zeit übernehmen. Die alten Griechen waren großartige Wortschöpfer. Sie haben auch den Begriff Sophrosyne erfunden. Gelassenheit war schon zu Sokrates´ Zeiten der Schlüssel zur Lebenskunst. Gelassenheit birgt das Wort „lassen“. Dinge lassen, verlassen, auslassen, loslassen, in Ruhe lassen, - das ist der Gegenentwurf zu unserer beschleunigten Zeit. Gelassenheit ist die Absage, alles und jedes, einschließlich sich selbst, jederzeit verfügbar zu machen und verfügbar zu halten. Stattdessen geht man auf Distanz, um Bedeutung und Bedeutungslosigkeit der Dinge zu erkennen. Unsere Zeit ist unser Leben. Jeder Tag birgt Entscheidungsmöglichkeiten. Wirklich lebens- und liebenswerte Qualitäten finden sich immer noch im Weniger ist mehr.

Through the Centuries. Anastasiya Markovich, 2006
Through the Centuries. Anastasiya Markovich, 2006

 

 

Als ich lebte, glaubte ich - wie du es tust -, dass die Zeit wenigstens so real und körperlich war wie ich selbst, und wahrscheinlich noch realer und körperlicher. Ich sagte „ein Uhr“, als ob ich es sehen konnte, und Montag, als ob ich es auf einer Landkarte finden konnte . . . Wie alle anderen lebte ich in einem Haus, das aus Sekunden und Minuten, Wochenenden und Neujahrstagen gebaut war, und ich ging nie hinaus, bis ich starb, weil es keine andere Tür gab. Jetzt weiß ich, dass ich durch die Wände hätte gehen können.

                                    Peter Beagle in "Das letzte Einhorn"


Literatur:                                                                                                                                                                                       Joachim Fernau: Rosen für Apoll. München/ Berlin 1982, S. 204 ff.                                                                                         Ulrich Grober: Vom Wandern - Neue Wege zu einer alten Kunst. Frankfurt am Main 2006, S. 252 ff.  ( absolut empfehlenswert für jeden Entschleunigungsbedürftigen! )                                                                                                    Robert Levine: Eine Landkarte der Zeit - Wie Kulturen mit Zeit umgehen,.München 2001, S.81 ff., S. 114 f.

                                                                                                                                                                                                       Bildquelle: wikimedia commons                                                                                                                                                  Artikel: Nora Thielen


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