Rhythmus: Leben in Einklang mit dem Kosmos

Alles Leben ist Bewegung, alles Leben ist Rhythmus. Ärzte und Psychologen sind sich darüber einig, dass der Rhythmus eine wesentliche Komponente menschlichen Seins ausmacht.

 

Der Mensch ist in den Rhythmus der Erde und des Himmels eingebettet. Das ganze Universum ist voller rhythmischer Prozesse: Tag und Nacht, Sommer und Winter, Vollmond und Neumond, warm und kalt, feucht und trocken, Aktivität und Ruhe. Die Gezeitenwirkungen mit Ebbe und Flut sind auf der ganzen Erde sichtbar. Auch der Mensch hat einen inneren Zeitrhythmus. Das spüren wir deutlich, wenn wir in eine andere Zeitzone fliegen. Der Körper lässt sich nichts vormachen, überspringt man die Umstellungsphase, reagiert er empfindlich.

 

Gesundheit kommt aus dem rhythmischen System. Aus der Mitte. Wenn der große Arzt Hippokrates seinen Schülern nahelegte, zuerst darauf zu achten, welche Wirkung jede einzelne Jahreszeit ausübt, dann geschah dies aus tiefstem Respekt vor der Natur. Alles im Körper stellte für ihn eine Nachbildung des Weltganzen dar; Mikro-und Makrokosmos bildeten für ihn eine Einheit. In der Harmonie drückte sich für die alten Griechen alles Göttliche aus. Ob in den Proportionen der Kunst, einer klugen Staatsführung oder der medizinischen Säftelehre, ganz gleich in welchem Lebensbereich, rechtes Maß galt als eines der höchsten erstrebenswerten Ideale. Einatmen–Ausatmen, Schlafen–Wachen, Anspannen–Entspannen, Essen–Verdauen. Ausgewogenheit entsteht durch Ausgleich der Gegensätze. Und dieser Balance kann nur durch die Zuverlässigkeit rhythmischer Vorgänge entstehen. - Doch was genau ist Rhythmus?

 

Rhythmus ist nicht mit Takt zu verwechseln. Dem Wesen nach sind Rhythmus und Takt sogar Gegensätze. Der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler unterscheidet den mechanischen Takt, der die Maschinen bestimmt, vom Rhythmus. „Rhythmus dynamisiert und gliedert die Zeit, zerteilt sie aber nicht – wie der Takt dies tut.“ Rhythmisch ist das Flügelschlagen der Vögel, der Trab wilder Pferde, das Gleiten der Fische im Wasser; aber kein Tier kann im Takt laufen, fliegen oder schwimmen, genauso wenig wie wir im Takt atmen können. Rhythmus ist eine entwicklungsfähige, sich ständig verändernde und erneuernde Kraft, der Takt dagegen ist eine zeitliche Regelung, eine fast genaue Wiederholung. Beispielsweise entspricht die immer in gleichen Zeitabständen tickende Uhr einem Metronom, kennt aber keinen Rhythmus. Erst die Unterschiede machen den Rhythmus aus! So unterliegen Herzfrequenz, Puls und Atmung dem Wechsel von Spannung und Entspannung, von Ein – und Ausatmung, von Zusammenziehen und Loslassen. Sie müssen sich dem Ereignis gegenüber, mit dem sie in Berührung kommen, so gut es geht anpassen, wenn sie das Leben fördern und erhalten wollen.

 

Faltkalender, um 1400
Faltkalender, um 1400

 

Wer sich mit der altgriechischen Philosophie beschäftigt, der stößt unweigerlich auf den Aphorismus panta rhei „alles fließt“, der dem griechischen Philosophen Heraklit zugeschrieben wird und sich auf die konstante Veränderung des Seienden bezieht. Darin enthalten ist das griechische Verb rhein „fließen“,  das auch dem Wort Rhythmus zugrunde liegt. Rhythmische Vorgänge gleichen dem Kommen und Gehen der Meereswellen. Ihr unablässiger Wechsel von Berg und Tal vollzieht sich ohne Einschnitt aus einer allmählichen Wandlung zwischen zwei Grenzzuständen. Keine Welle hat genau die gleiche Gestalt und Dauer wie die vorige, kein Atemzug oder Pulsschlag genau die gleiche Länge des nächsten. Und doch liegt in diesem Kommen und Gehen, dem Aufbauen und Abklingen, die beruhigende Kraft steter Wiederkehr. In dieser Polarität spiegelt sich das ganze kosmische Geschehen. „Wie ein großes Atmendes.“ Dürckheim.

 

Der Atem ist neben dem Herzschlag einer der wichtigsten lebenserhaltenden Rhythmen. Atemtherapeuten sagen, im Atem lasse sich die ganze Lebenseinstellung eines Menschen ablesen. Jede bleibende Veränderung des Atems setze eine Änderung des ganzen Menschen in seiner Einstellung zu sich und zum Leben voraus. Nicht umsonst steht pneuma bei den alten Griechen sowohl für Atem als auch für den Geist und die Seele. Der Atemrhythmus ist eng mit der Sprache verknüpft. Das Wort braucht den Rhythmus, um Zugang zu den Menschen zu bekommen. Erst Rhythmus macht, dass Worte sich einprägen: In den Epen, den Zaubersprüchen, den Aufrufen der Propheten, überall ist Rhythmus das tragende Element. Wie wichtig der Rhythmus ist, wissen am besten die Dichter. Schiller schreibt in einem Brief an Körner: “Das Musikalische eines Gedichts schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich kaum mit mir einig bin.“

 

Auch menschliches Leben läuft keineswegs linear gemäß einem Taktfahrplan, sondern vielmehr rhythmisch in Kreisen und Kreisbahnen, was auch die zyklische Wiederkehr ähnlicher Schwierigkeiten erklärt, unsere Hausaufgaben in der Schule des Lebens. Aber nicht nur der einzelne Mensch, ganze Gruppen, ganze Völker, ganze Kulturen bewegen sich im Rhythmus des Atems. Goethe hat das ewige Auf und Nieder der Geschichte gedeutet als Systole und Diastole, gleichsam als Schlagen eines Weltherzens. Immer wenn die rhythmische Welle am Tiefpunkt angelangt ist, ändert sie unweigerlich die Richtung und wächst an zu einem neuen Wellenkamm. Johannes Kepler, der berühmte Astronom und Naturphilosoph, fand im rhythmischen Ablauf kosmischen Geschehens den Wesenskern der Natur, das tragende Prinzip der Ordnung, den Schlüssel zum Wesen des Göttlichen. In Rhythmus, Maß und Zahl sah er das beherrschende Prinzip der Schöpfung. Aus höheren Regionen vernahm er eine Harmonie, die ihn hinaushob über alle Erdenschwere. Die gleiche Himmelsmusik hatte schon die alten Griechen in Entzücken versetzt. Sie nannten die Klänge Sphärenmusik. Musik hatte im klassischen Griechenland sowohl im praktischen Leben als auch in der Weltanschauung und Staatsauffassung eine ungeheure Bedeutung. Zu jedem Gastmahl gehörten Musik und Tanz dazu, ebenso zu den wichtigsten Wettkämpfen. Bei der Beherrschung des Körpers wurden Bewegung und Rhythmus gleichgesetzt, genauso bei der Beherrschung des Wortes. Die antike Dichtung kennt keinen Reim, keinen Zusammenklang der Sprache, sonder ist rein rhythmischer Natur.

 

Rudolf Steiner, Vater der Anthroposophie, bezeichnet rhythmische Vorgänge als halbgeistige Phänomene. Anfang des letzten Jahrhunderts ließ er Sätze und Gedichte in Bewegung umsetzen. Die neue Kunstgattung nannte er Eurythmie, was soviel bedeutet wie „Gleichmaß in der Bewegung“. Angesprochen war die Ganzheit des Menschen. Darauf hat Steiner großen Wert gelegt. Wenn der Mensch sich seelisch durch Sprache oder Gesang offenbart, dann ist er mit seinem ganzen Wesen dabei. „Die Bewegungen sprechen oder singen, wie der Kehlkopf tönt oder lautet.“ Steiner hat der Eurythmie eine wichtige erzieherische Bedeutung beigemessen. Damit lag er ganz auf der pädagogischen Linie des Sokrates, der sich schon 2300 Jahre früher der Überzeugung war: „Musik ist die beste Form der Erziehung, weil Rhythmus und Harmonie bis in die innersten Bereiche der Seele vordringen und ihr Anmut und Anstand verleihen.“

 

Dieses Sokrates-Wort nahm sich die Stadt Berlin zum Vorbild.  Kurz vor der Jahrtausendwende wurde eine sechsjährige Studie an zwölf Schulen durchgeführt, allesamt in sozial schwachen Stadtteilen. Ziel war es, den Einfluss von klassischer Musik auf die Intelligenz und den Charakter der Schüler zu untersuchen. Wer an dem Versuch teilnahm, durfte kostenlos ein klassisches Instrument erlernen oder Gesangsunterricht nehmen. Positive Resultate ließen nicht lange auf sich warten: Die musizierenden Kinder waren „fröhlicher, intelligenter und kreativer“ als die anderen. Sie lernten originell zu denken und ihre sogenannte Sozialkompetenz nahm stark zu. Ein Eindruck, der sich mit der Zeit festigte.

 

Rhythm is it“ sagte sich darauf Sir Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, und begann ein ambitioniertes Musikprojekt ganz nach der Idee des Schulversuchs. Im Februar 2003 konnten 250 Schüler aus 25 Nationen ( wieder alle aus schwierigem Umfeld ) zeigen, was in ihnen steckt. Von den Kindern und Jugendlichen war niemand mit klassischer Musik und Tanz vertraut; innerhalb von sechs Wochen übten sie unter Anleitung des Choreographen und Tanzpädagogen Royston Maldoon das Ballett „Le Sacre du Printemps“ von Igor Stravinsky ein, dessen Aufführung mit den Berliner Philharmonikern für Furore sorgte.

 

Rhythmische Kräfte lassen Flügel wachsen. Und sind zudem hervorragende Brückenbauer. Das beweisen immer mehr Menschen, die sich über Feindschaften oder Berührungsängste ihrer Nationen und Religionen hinwegsetzen und für eine friedlichere Welt musizieren: Im West-Eastern Divan Orchestra tragen Israelis und Araber mit Beethoven, Brahms und Mozart eine gemeinsame Zukunftsvision in die Welt. In der neuen Kulturhauptstadt San Sebastián trommeln Tausende von Basken für den Frieden. In Köln lädt ein engagierter Schüler begeistert ein: “Refugees welcome on stage!“  Denn Rhythmus erneuert. Rhythmus verbindet. Rhythmus dient als ausgleichende Kraft immer dem Leben. - Rhythm is it!

 

 

Literatur:

Heinrich Dietz: Vom Pulsschlag zur Sphärenharmonie, in: Kaltenbrunner: Rhythmus des Lebens, München 1983, S.39 ff. Ludwig Klages: Symphonie der Rhythmen, in: Kaltenbrunner a.a.O. S.167 ff.                                                                                       Aurelia Spendel: Rhythmus - Weisheit aus dem Kloster, 2008, S.11 f.                                                                                                      ZeitenSchrift Nr 66: Wie Musik den Charakter veredelt

Bildquelle: wikimedia commons                                                                                                                                                  Artikel: Nora Thielen


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