Selbstheilungskräfte: Der Gesundbrunnen in uns selbst

 

Medikamente sind nicht immer notwendig, - der Glaube an die Genesung dagegen immer.

 Norman Cousins

 

Schon Hippokrates, der große Arzt der Antike betonte, dass der menschliche Körper sich normalerweise selbst heilt. Seit damals sprechen wir von der „vis medicatrix naturae“, der heilenden Kraft der Natur, deren Kampf gegen die Krankheit der Arzt bestmöglichst unterstützen soll.

 

Dem englischen Arzt David Colemann zufolge sind die Selbstheilungskräfte unseres Körpers so wirksam, dass sie ohne fremde Hilfe mehr als 90 Prozent aller Krankheiten selbst überwinden können. Und das Wunderbare ist: Wir müssen unserem Körper dazu nichts beibringen, unsere Eigenleistung besteht allein in einer lebensbejahenden Haltung. Gedanken und Gefühle von Liebe, Vertrauen, Frieden, Harmonie und Offenheit drücken sich auf der körperlichen Ebene als Entspanntheit aus. Blut, Energie und Hormone strömen dann ungestört durch den ganzen Organismus. Die beste Voraussetzung also, damit unser innerer Heiler alle Kräfte zu unserer Genesung mobilisieren kann.

 

Erstaunliche Erkenntnisse über die Art und Weise, wie der menschliche Körper sich selbst heilt, und über die rätselhafte Fähigkeit des Gehirns, biochemische Veränderungen zu befehlen, vermitteln umfangreiche Studien über Placebos ( von lat. „placere“, „ich werde gefallen“ ). Mittlerweile gibt es ausreichend Beweise dafür, dass das Scheinmedikament nicht nur wie ein wirkliches Medikament aussehen kann, sondern tatsächlich auch oft so wirkt. Die Psyche ist ein Sensibelchen. Wie wohltuend wirken Kräfte der Hoffnung und Zuversicht auf den Kranken. Seit frühester Zeit wurden Heilungssuchende durch Besprechen behandelt. In jedem Dorf fand man jemanden, der die Gabe besaß, Krankheiten durch das Aufsagen von Gebeten und Sprüchen zu heilen. Die Wortmagie ist so alt wie die Sprache selbst, sie ist in allen Kulturen heimisch. Heilungen durch das Wort wurden von Priester-Ärzten im Alten Orient teilweise aufgezeichnet. Die erste Erwähnung im Abendland findet die positive Suggestion durch den griechischen Philosophen Platon. Er war der Meinung, dass Worte durchaus die Kraft haben, Kranke zu heilen. Demzufolge zog er in Betracht, einem schwer kranken Patienten durch Worte das Gefühl zu geben, dass er gute Heilungschancen habe oder dass seine Krankheit weitaus weniger schlimm sei, als er denke.

 

Wie machtvoll Worte sein können, erkannte auch Émile Coué, der Ende des 19. Jahrhunderts in Nancy eine gutgehende Apotheke führte. Eines Tages kam ein Patient zu ihm, bei dem alle Behandlungen der Ärzte versagten. Seit Jahren hatte er Coué regelmäßig aufgesucht, damit er ihm die verschriebenen Arzneien zubereitete. Doch an jenem Tag sagte er: „Die Ärzte verstehen es nicht, womit ich endlich zu heilen wäre. Zu Ihnen, Monsieur Coué, habe ich das größte Vertrauen. Stellen Sie mir ein Medikament zusammen. Ich weiß, dass Sie mir helfen werden!“ Dieses Anliegen brachte Coué in arge Verlegenheit. Doch der Patient blieb hartnäckig, und so mixte der Apotheker schließlich völlig wirkungslose Substanzen zu einer angeblichen „Medizin“ zusammen, die den Mann in kurzer Zeit vollkommen gesunden ließ.

 

Emil Coué erkannte, dass sich der Geist unter Umständen als viel mächtiger erweist als Medikamente. Fortan gab er den Patienten nicht nur Medizin, sondern auch aufmunternde Worte mit auf den Weg: „Das ist eine hervorragende Arznei! – Der Doktor hätte Ihnen gar nichts Besseres verordnen können! – Damit geht es mit Ihnen wieder schnell bergauf!“ Und tatsächlich ging es mit den Patienten bergauf. Weil die Wirksamkeit von Coués Medikamenten deutlich zunahm, war sich der Apotheker nun sicher, dass die gedanklichen Selbstbeeinflussungen des Kranken dank Aufmunterungen in die richtige Bahn gelenkt wurden. Von 1912 bis in die 1920er Jahre reiste Coué durch die europäischen Großstädte und in die USA und füllte mit Vorträgen über seine Methode die Säle. Es war ihm wichtig, die Heilkräfte der Menschen zu stärken und möglichst vielen beizubringen, wie sie sich selber helfen konnten.

 

Coués Schrift „Die Selbstbemeisterung durch bewusste Autosuggestion“ basierte auf zwei Grundsätzen:

 

               1. Jeder Gedanke in uns ist bestrebt, wirklich zu werden.

             2. Nicht unser Wille, sondern unsere Vorstellungskraft, die Fähigkeit, sich etwas glauben zu 

                   machen, ist die bedeutsamste Eigenschaft in uns.

 

Von Coué stammt auch die berühmte Affirmation: „Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser!“ Er lehrte, große Erfolge könne man mit der einfachen Übung erzielen, sich den Satz lebenslang täglich nach dem Erwachen und vor dem Schlafen etwa 20 mal halblaut vorzusprechen. Und zwar möglichst unangestrengt, langsam und monoton in der Art einer Litanei oder eines Mantras, ohne den Willen zu sehr zu bemühen. Hierbei sei es gleichgültig, ob man daran glaube oder nicht und was man bewusst dabei denke, solange nur die Lippen den Satz laut genug formten, damit er über die Ohren wieder zurückwirken könne.

 

Bei akuten Schmerzen oder Beschwerden, gleich ob körperlicher oder seelischer Natur, gab Coué den Rat, die Hand auf die betroffene Stelle oder die Stirne zu legen und möglichst schnell zu wiederholen: „Es geht vorbei. Es geht vorbei. Es geht vorbei ...“, bis die Symptome abklängen. Die Selbstbehandlung sei bei Bedarf zu wiederholen, bei regelmäßiger Anwendung werde sich der Erfolg immer schneller einstellen und die Symptome immer seltener erscheinen, bis sie schließlich ganz verschwunden seien.

 

Coué betonte gegenüber seinen Patienten immer wieder, kein Wunderheiler zu sein. „Ich habe keine Heilkraft, nur Sie selbst!“ Jeder Mensch beeinflusst sich ununterbrochen selbst. Ständig erschaffen wir Gedanken und Gefühle, die uns prägen. Es ist ein unentwegter Kreislauf. Eine der größten Entdeckungen aller Zeiten ist die Erkenntnis, dass das Unbewusste durch Gedanken gelenkt werden kann. Es bewertet alle unsere Gedanken, Empfindungen und Worte stets als vollgültige Informationen und beantwortet sie durch unsere inneren Gestaltungskräfte. Mit anderen Worten: was wir denken und fühlen, setzt unser Unbewusstes in die materielle Wirklichkeit um.

 

Der Wissenschaftsjournalist Norman Cousins, Erfinder der Lachtherapie ( aus purer Verzweiflung, er litt an einer schmerzhaften Wirbelsäulenerkrankung ), beschäftigte sich in den Siebziger Jahren intensiv mit den Selbstheilungskräften im Menschen. Ein Besuch in Albert Schweitzers Urwaldhospital in Lambaréné hatte bei ihm bleibenden Eindruck hinterlassen. Beim Abendessen mit Schweitzer hatte er sich die Bemerkung erlaubt, die Menschen in der Umgebung hätten Glück, bei Beschwerden die Klinik aufsuchen zu können, anstatt sich auf den Wunderglauben der Medizinmänner verlassen zu müssen. Albert Schweitzer erkundigte sich darauf, was er denn über Medizinmänner wisse. Cousins erinnert sich in seinem Buch „Der Arzt in uns selbst“: „Ich saß in der Falle meiner eigenen Unwissenheit, - und beide wussten wir das. Am nächsten Tag nahm mich le grand docteur zu einer nahegelegen Dschungellichtung mit, wo er mir un de mes collègues, einen älteren Medizinmann vorstellte.“ Nachdem sich die beiden voll gegenseitigem Respekt begrüßt hatten, schlug Dr. Schweitzer dem Schwarzen vor, dem Gast einen Einblick in die afrikanische Heilkunst zu gewähren.

 

Die nächsten zwei Stunden sahen sie, etwas abseits stehend, dem Medizinmann bei seiner Arbeit zu. Einigen Patienten überreichte er eine braune Tüte mit Kräutern. Bei anderen, die keine Kräuter bekamen, verfiel er in einen Gesang. Zu einer dritten Kategorie von Kranken wiederum sprach er mit gedämpfter Stimme und wies dabei auf Dr. Schweitzer.

 

Später, auf dem Rückweg zur Klinik erklärte Schweitzer seinem Gast, was geschehen war. Die Patienten, die über Beschwerden geklagt hatten, die der Medizinmann ohne weiteres diagnostizieren konnte, erhielten spezielle Kräuter, aus denen sie sich ein Getränk brauen sollten. Schweitzer meinte, dass es den meisten dieser Patienten sehr schnell besser gehen würde, da es sich in ihrem Fall eher um funktionelle als um organische Störungen handle. Die verordnete Medizin war also kein wirklich entscheidender Faktor. Die Kranken der zweiten Gruppe klagten über Leiden, die psychischer Natur waren. Ihnen versuchte der Medizinmann mit afrikanischer Psychotherapie zu helfen. Zur dritten Gruppe gehörten die Eingeborenen, die den Medizinmann wegen schwerwiegender Probleme aufsuchten. Komplizierte Bruchleiden, ausgerenkte Schultern, Tumore - waren einige der Diagnosen. Viele dieser Probleme erforderten einen Eingriff, und deshalb wurden die Patienten an die Klinik verwiesen. Als Cousins fragte, wie Schweitzer es sich erkläre, dass überhaupt jemand nach der Behandlung durch einen Medizinmann hoffen könne, gesund zu werden, antwortete dieser sichtlich amüsiert, Cousins verlange von ihm, ein Geheimnis zu enthüllen, das die Ärzte schon seit Hippokrates mit sich herumtrügen. Aber er wolle es ihm trotzdem verraten: „Der Medizinmann hat aus dem gleichen Grund Erfolg wie wir auch. Alle Patienten tragen ihren eigenen Arzt in sich. Sie kommen zu uns, ohne diese Wahrheit zu kennen. Wir sind dann am erfolgreichsten, wenn wir dem Arzt, der in jedem Patienten steckt, die Chance geben, in Funktion zu treten.“

 

Die Selbstheilungskraft des Menschen gehört zum Wesen seiner Einzigartigkeit. Alle großen Heiler und Heilerinnen haben sich tief vor dieser wundervollen Kraft verneigt. Denn sie alle wussten: Der größte Arzt aller Zeiten ist und bleibt der Arzt in uns selbst.

 

 

Literatur:                                                                                                                                                                             Norman Cousins: Der Arzt in uns selbst. Schirner, Darmstadt 2009                                                                                        Mike Samuels, Hal Bennett: Das Körperbuch. Verlag Bodymind, Berlin 1978                                                         ZeitenSchrift Nr. 55: Autosuggestion: Mir geht es jeden Tag besser und besser und besser                                  Wikipedia-Artikel: Émil Coué                                                                                                                                                       

 

Bildquelle © wikimedia commons

Blog-Artikel: Nora Thielen


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