Antike Tempel-Heilkunst: Der Helfergott von Epidauros

 Im Tempel des Asklepios. Ganzheitliche Sanatorien kannten schon die alten Griechen.
Im Tempel des Asklepios. John William Waterhouse, 1877

Ganzheitliche Sanatorien gab es bereits im antiken Griechenland. In Scharen pilgerten Kranke zu den Heilstätten des Asklepios. Nicht ohne Grund: Im Tempelschlaf hatte sich schon manche Hoffnung auf Genesung erfüllt.

 

Asklepios, der unvergleichliche Meister ärztlicher Heilkunst, zählt zu den Nachzüglern unter den Göttern. Sein Kult erblühte im 5. Jahrhundert v. Chr., der sogenannten Klassik, dem schöpferischen Höhepunkt der alten Griechen. Große Werke der Kunst, der Dichtung und der Architektur vollendeten die vorangegangene Entwicklung und waren zugleich richtungsweisend für den Weg, den die griechische Kultur in den folgenden Jahrhunderten nehmen sollte.

 

Trotz strahlender Tempel und Statuen, die antike griechische Gesellschaft war keine wohlhabende Gesellschaft. Die meisten Menschen lebten in Armut oder knapp darüber. Die Lebenserwartung war niedrig. Jede noch so kleine Polis wachte streng über die eigene Autonomie, Krieg war eher der Normalzustand. Mit dem Anwachsen der Städte breiteten sich Epidemien aus. In Athen raffte die Pest in den Jahren 430 - 426 v. Chr. ein Viertel der Bevölkerung dahin.

 

Der Landbevölkerung ging es nicht besser. Anhand von Skelettmaterial erforschte man die Krankheitsbilder der Bewohner von Lerna, einer kleinen Siedlung im Süden der Argolis. Gelenkschäden durch Arthrose und Arthritis und Wirbelsäulenschäden zeigen, wie hart das Leben der einfachen Bauern war. Veränderungen der Knochen zufolge haben die Menschen in dem sumpfigen Gebiet oft an Malaria gelitten. Rillen im Zahnschmelz sind Anzeichen einer ernsthaften Unterernährung im Wachstumsalter. Verheilte Schädelverletzungen, Brüche und Hiebwunden rührten von Kämpfen, die wohl kaum ein Dichter besungen hat.

 

Die wissenschaftliche Medizin, die bereits ein hohes Niveau erreicht hatte, konnte bei Krankheit oder Verletzung zwar bis zu einem gewissen Grad Hilfe bringen, aber nicht alle Hoffnungen auf Heilung erfüllen. Dem entsprach eine grundsätzliche Haltung antiker Ärzte, die sich die Entscheidung vorbehielten, ob sie einen Heilungsversuch unternehmen wollten oder nicht. In Fällen, die sie für aussichtslos hielten, war es legitim die Behandlung abzulehnen. Selbst im hippokratischen Eid fehlt der Passus, dass der Arzt einem jeden, der ärztlicher Hilfe bedürfe, nach Kräften helfen müsse, so wie es heute in den Berufsvorschriften der Ärzte enthalten ist.

 

Eine solche Haltung erforderte aber einen Ausgleich, eine Instanz, an die sich die Abgewiesenen in ihrer Not wenden konnten, und diese stellte Asklepios dar. Der Gott nahm jeden Heilungssuchenden an, vorbehaltlos.

 

Die berühmteste Heilstätte war der Tempel von Epidauros. Vermutlich erinnerte gleich am Eingangstor die von Porphyrios überlieferte Inschrift an eine der wichtigsten Regeln für den Heilungssuchenden: „Rein muss sein, wer in den duftenden Tempel tritt, rein sein ist aber, heilige Gedanken zu haben.“ Nicht nur die Reinigung von Körper und Kleidung wurde vorausgesetzt, sondern auch das Vermeiden von Handlungen, die der Heiligkeit des Ortes zuwiderliefen. Das bezog sich besonders auf die Grenzbereiche des menschlichen Lebens. Geburt und Tod durften im Tempel selbst nicht stattfinden. Diese Vorschrift, die auch von den anderen Heiligtümern überliefert ist, bedeutete eine Härte für Menschen, die sich mit letzter Kraft hergeschleppt hatten. Damit Frauen und Männer nicht mehr unter freiem Himmel gebären und sterben mussten, hat man im 3. Jh. v. Chr. ein zusätzliches Gebäude nah am innersten heiligen Bereich errichtet, das in Extremsituationen eine einfache Unterkunft bot.

 Asklepios: der menschlichste unter den Göttern

Vor dem Tempel lag ein Altar, wo zunächst ein kleines Opfer darzubringen war, bevor der Pilger den heiligen Bereich mit dem kostbaren Kultbildnis betreten durfte. Die Gestalt des Asklepios hat die bedeutendsten Künstler zu immer neuen Wiederholungen und Varianten seiner Darstellung auf Weihbildern angeregt. Und immer wird das Persönliche, für ihn so typisch Menschliche geschildert. Auf seinen Schlangenstab gestützt wie ein Polisbürger, der sich aufs Verweilen einrichtet.

Asklepios und Hygieia. Weiherelief 5. Jh. v. Chr.
Asklepios und Hygieia. Weiherelief 5. Jh. v. Chr.

Auf Reliefs wird Asklepios meist begleitet von seiner Tochter Hygieia, der personifizierten Gesundheit. Der Mythos weist ihr zwar nur den Platz einer Tochter zu, doch wird sie von Anfang an fast gleichberechtigt neben ihrem Vater verehrt. Fürsorglich nimmt sie sich der Schlange an, das dem Vater heilige Tier. Zu Füßen des Gottes steht häufig, eingehüllt in einen Kapuzenmantel, ein gnomhaftes Wesen. Für ihn ist der Name Telesphoros überliefert, „der zum ( guten ) Ende bringt.“, eine Verkörperung der erdgebundenen Kräfte, die ihren Beitrag zur Gesundung leisten müssen.

 

Eine therapeutisch wichtige Aufgabe, mit die wichtigste vielleicht, erfüllten die Votivgaben früherer Besucher. Tempelbereich und Tempelvorplatz waren mit Inschriften und Weihgaben geradezu übersät.

 

Hier hatte der Kranke Muße die Leiden anderer und vor allem die wunderbaren Heilungen auf sich wirken zu lassen. Üblicherweise schrieb und malte man derartige Votive auf kleine Holztafeln, die dann dem allmählichen Verfall preisgegeben waren. Um die Tradition zu bewahren, hatten die Priester veranlasst, zahlreiche Heilungsberichte, sogenannte Iamata, auf steinernen Stelen aufzuzeichnen. Eindrucksvolle Schilderungen über schmerzlose Eingriffe und erfolgreiche Arzneien machten dem Kranken Mut und gaben ihm allen Grund zur Hoffnung.

 

Erschöpft von der Reise, den Kopf voller Eindrücke, wurden die Patienten gegen Abend zu den Liegeräumen, dem Abaton, geführt, wo sie im Schlaf die Heilung erwarten durften. Im Traum erschien ihnen der Gott, begleitet von seinen Gehilfen, ging von Lager zu Lager, fragte nach den Leiden, berührte, operierte, verabreichte Arzneien oder gab Anweisungen, die am nächsten Tag auszuführen waren. Rezepturen aus Öl, Honig, Milch und Kräutern waren den Menschen vertraut. In vielen Fällen aber wurde nur eine unbestimmte Medizin gereicht, die man gläubig einnehmen sollte. Asklepios kannte vielleicht noch keinen Placeboeffekt, aber er wusste, wie wichtig das bedingungslose Vertrauen in seine Kunst war. So „strafte“ er denn auch Zweifler und Ungläubige, indem er ihnen die Heilung verweigerte.

 

Der Gott zog Lanzenspitzen heraus, setzte Augen wieder ein, öffnete Bäuche, um Würmer zu entfernen oder sorgte ohne viel Federlesens für die Entlausung. Manchmal schien Hippokrates persönlich anwesend zu sein, dann wenn der Heilgott zur sanfteren Methode riet. So wie er den vereiterten Eratokles noch früh genug vor dem Brennen warnte und dazu riet, lieber im Heilraum von Epidauros zu schlafen. Und siehe da, “als die Zeit vergangen, die ihm verordnet war, brach die Eiterbeule auf, und er ging gesund von dannen.“

 

Bei vielen Rezepten und Prozeduren sind die Parallelen zur zeitgenössischen Medizin unübersehbar. Andere waren so phantasievoll wie die Traumsphäre selbst. So heilte Asklepios die an Wassersucht leidenden Arate - die Mutter schlief stellvertretend für sie im Abaton - indem er ihr den Kopf abschnitt, den Körper nach unten hängte und die Flüssigkeit einfach auslaufen ließ.

 

War der Traum für den Kranken allzu unverständlich, dann mussten die Tempelpriester die Anweisungen erst deuten und oftmals bei der Umsetzung helfen. Auch bei der Verordnung von Bädern, Gymnastik oder Diäten wurde vielfältiges Kultpersonal benötigt. Der anwachsende Betrieb, dem ständig neue Gebäude angegliedert wurden, musste unterhalten werden. So erwartete der Gott für den Aufenthalt im Tempel verständlicherweise einen Obolus. Wie das Honorar ausfiel - und hier zeigte sich Asklepios wieder sehr hippokratisch - stellte er ganz seinen Patienten und ihrer besonderen Situation anheim. Eine Inschrift der Stelen überliefert die Geschichte des Knaben Euphanes. Dieser war steinleidend und träumte im Heilraum, der Gott trete vor ihn und sage: “Was willst du mir geben, wenn ich dich gesund mache?“  Der Junge habe geantwortet: „Zehn Astragale ( Klicker ).“ Da habe der Gott gelacht und gesagt, er werde ihn erlösen.

 

Der wachsende Ruhm von Epidauros ließ auch andere Städte nach der Anwesenheit des begnadeten Heilers verlangen. An zahllosen Orten entstanden neue Heiligtümer, so in Athen, Knidos, Naupaktos und Pergamon. Gestiftete Weihgaben von Ärzten zeugen von einer gutem Zusammenarbeit mit dem Gott. Antje Krug schreibt in ihrer Entwicklungsgeschichte der antiken Medizin über die Rolle des Asklepios: „Ein Kult wie der seine konnte in dem Maße als „das Prinzip Hoffnung“ entstehen, wie sich die ärztliche Kunst mit der Ausweitung ihres Wissens zugleich auch ihre Grenzen eingestehen musste... Diese wechselseitige Bedingtheit von Heilkunst und Heilkult, die gemeinsam aber Scharlatanerie und Magie verurteilten, führte zu einer respektvollen Duldung, ja sogar gegenseitiger Förderung.“

 

Die Ärzte waren auf die Unterstützung des Asklepios angewiesen, denn auch die irrationale Seite des Leidens verlangte nach Hilfe. Der Gott half allein durch die Macht seiner Gegenwart und das machte ihm so leicht kein sterblicher Arzt nach. Keiner der alten Götter hat sich mit solcher Ausschließlichkeit dem einzelnen Menschen, seinen Sorgen und Nöten gewidmet wie er. Am leichtesten lassen sich psychosomatische Grundlagen vieler Krankheiten als Anlass für Spontanheilungen begreifen. Die Wechselwirkung zwischen der kraftvollen Ausstrahlung des heiligen Ortes und der Bereitschaft und dem Willen des Kranken, sich heilen zu lassen, ermöglichten es Asklepios in scheinbar aussichtslosen Fällen noch Wunder zu vollbringen.

 

Auf zahllosen Darstellungen ist Asklepios von einer Schlange begleitet. Die Asklepiosschlange ist jedoch ein gutartiges Tier, sie wirkte bei den Heilungen durch Lecken und Berührungen mit. Selbst in der Spätantike, als die alten heidnischen Kulte langsam verblassten und das Christentum an ihre Stelle trat, zeigte der Kult eine ungebrochene Vitalität. Im beginnenden Mittelalter erhielt der Schlangenstab die Bedeutung, die er bis heute behalten hat. Als Symbol der Heilkunst und des Ärztestandes.

 

Literatur: Antje Krug. Heilkunst und Heilkult. München 1993                                                                                          Bildquellen © Wikimedia Commons

 

Artikel: Nora Thielen


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