Spieglein, Spieglein: Die glänzenden Propheten der alten Griechen

 

In Volksglauben und Kult haben Spiegel von jeher eine tiefe Bedeutung. Neben den Eitelkeiten dienten sie immer auch Priestern, Philosophen und Sehern. Reflektierende Flächen konnten ruhende Gewässer, glänzende Schalen oder Schilde, blankgeriebene Steine, manchmal sogar der polierte Fingernagel sein. Selbst Sonne und Mond konnten Spiegel sein.

 

Nach Plutarch ist die Sonne ein Spiegel Gottes, den er selbst an den Himmel gehängt hat. Sie sei so etwas wie ein Spiegelbild für diejenigen, die ihn durch dieses Hilfsmittel betrachten könnten..Nachbildungen des göttlichsten unter den Spiegeln konnten nur aus dem reinsten und edelsten aller Metalle, dem Gold sein, dem herab geholten Licht der Sonne. Auch andere Gestirne brachte man mit Spiegeln in Verbindung. Das astronomische Symbol der Venus gilt als stilisierte Repräsentation des Handspiegels der namensgebenden römischen Liebesgöttin ♀. Und natürlich der Mond. Immer wieder rief er gelehrte Auseinandersetzungen hervor. Die einen sahen in ihm eine kleine in der Nacht scheinende Sonne. Andere erkannten in ihm menschliche Züge, die Reflexion des Ozeans oder Schatten von Erdlandschaften. In mystischen Betrachtungen entsprach das Gesicht des Mondes der Seele, die Erde war der Körper und die Sonne der Geist der Dinge.

 

Mondspiegel wurden aus Silber gefertigt. Andere kosmische Spiegel aus Elektrum, eine ursprünglich natürliche Legierung aus Gold und Silber. In der Antike, vor allem in Ägypten und Griechenland, wurde Elektrum vielfältig verwendet und wegen seiner dunklen Farbe und seinem hohen Glanz besonders verehrt. Homer erwähnt es bei mehreren Gelegenheiten, und man findet es bereits als Bestandteil der mykenischen Goldschmiedekunst. Laut dem griechischen Geschichtsschreiber Zosimos, einem Alchemisten der Spätantike, hatte Alexander der Große aus Elektrum einen Spiegel gemacht, der ihm als Talisman diente und vor dem Blitz schützen sollte, der die menschliche Gattung zu vernichten drohte. Seine Nachfolger stellten ihn später in den Tempel der Sieben Tore. Die Kräfte des Spiegels wurden für unermesslich gehalten...

 

Spiegel der Reinheit

 

Dass der Spiegel Lauterkeit bedeutet, darauf deutet schon die bei Aristoteles auftauchende Meinung, dass sich das Glas vor einem menstruierenden Weibe wegen dessen Unreinheit trübe, ebenso auch vor einem Schuldigen. Noch bei Johann Geiler von Kaysersberg, dem bedeutendsten deutschen Prediger des ausgehenden Mittelalters, taucht diese Ansicht auf. Um eine Braut zu finden, die noch keinen unreinen Gedanken gehabt hat, lässt man die Mädchen in den Spiegel schauen, um zu überprüfen, ob er sich trüben werde. Dieses Motiv lebt noch im französischen Jahrmarktstheater des 17. Jahrhunderts. Kirchlich geweihte und deshalb gegen Dämonen gefeite Spiegel haben Heilkraft, wofür die alte katholische Spiegelweihe bürgte. Noch im 18. Jahrhundert galt die Spiegelschau als heilsam für die Augen. Von der sonnenhaft durchdringenden, alles an den Tag bringenden Kraft des Spiegels wird böser Zauber entlarvt. So halten betrügerische Dämonen in falscher Gestalt vor ihm nicht stand. Menschen, die mit dem bösen Blick behaftet sind, vernichten sich dem Volksglauben zufolge selber, wenn sie in den Spiegel schauen. Nicht anders die Basilisken-Echse, die seit dem Mythos zu den gefürchteten Tieren der Unterwelt zählt und die man am sichersten unschädlich zu machen glaubte, indem man ihr einen Spiegel vorhielt. Der italienische Bischof Majoli gibt die Anleitung dafür: „Man nimmt dazu einen großen Spiegel, hinter dem man sich völlig verbirgt, und so nähert man sich diesem giftigen Tier, das sich, wenn es sich im Spiegel sieht, durch die Reflexion der Strahlen, die aus seinen eigenen Augen kommen, selbst tötet.“ Sicher lebte der Glaube an einen Abwehrzauber noch in den kleinen Zierspiegeln, mit denen die Damen im Mittelalter sich schmückten.

Spiegel und Seele

                                                                                                                                                                   Auf der ganzen Erde ist der Glaube verbreitet, dass Spiegelbild und Seele eine tiefe Affinität zueinander haben, wenn nicht sogar identisch sind. In Frankreich hat man noch im 18. Jahrhundert den großen Standspiegel "La Psyché" getauft. In primitiven Kulturen ist die Meinung, Spiegel und Seele seien dasselbe, oft etwas Selbstverständliches. "Ich starre in die Geisterwelt", soll ein Wilder ausgerufen haben, den man zum ersten Mal in einen Spiegel blicken ließ. Auf den melanesischen Inseln im Südpazifik bedeutet das Wort für Seele gleichzeitig Spiegelbild. Da das Herz oft als Sitz der Seele betrachtet wird, legen die Indianer von Guyana, und oft auch die Chinesen, ihrem Toten einen Spiegel darauf. In Guyana glaubt man - gleiches wird auch in den Upanishaden der Inder überliefert - dass das winzige Spiegelbild, welches wir in der Pupille einer gegenüberstehenden Person entdecken, unser Selbst darstellt. Wer einem Lebenden sein Spiegelbild oder seinen Schatten wegnimmt, der hat ihm seine Seele genommen. Auch in westlichen Breiten war lange der Glaube verbreitet, dass ein Verstorbener im Spiegel erscheinen kann, besonders nach Anruf seines Namens. Deshalb verhängte man Spiegel in Sterbehäusern mit Tüchern. Tabuvorschriften, die sich an Spiegel knüpfen, findet man in den verschiedensten Weltgegenden zu allen Zeiten wieder. Sie haben zu einer angsterfüllten Spiegelscheu geführt, die mit der Eitelkeit und auch mit dem Willen zur Selbsterkenntnis lange Zeit im Kampfe lag.

Initiation in den Kult des Dionysos, griechischer Gott des Totenreichs und der Ekstase, um dessen Spiegel - hier ein  Gefäß - sich eine tiefgründige Geheimlehre gebildet hat. Fresko in der Mysterienvilla in Pompeji um 100 v. Chr.
Initiation in den Kult des Dionysos, griechischer Gott des Totenreichs und der Ekstase, um dessen Spiegel - hier ein Gefäß - sich eine tiefgründige Geheimlehre gebildet hat. Fresko in der Mysterienvilla in Pompeji um 100 v. Chr.

 

Gerade Götter, die mit dem Totenkult in Verbindungen stehen, tragen oft den Spiegel. In Siedlungen der alten Griechen wurden Spiegel immer wieder in Gräbern gefunden. Da man das Gerät auch in Männergräbern fand, oft als einzige Grabbeigabe, lässt vermuten, dass es mit der alten Überzeugung zu tun hat, der Mensch habe zwei Körper. Im antiken Platonismus ist die Rede von einem „Seelenfahrzeug“ wie auch von einem „Gewand“ oder einer „Hülle“ der Seele; ein unsichtbarer Teil, der die irdische Existenz überdauert. Mystiker aller Zeiten kennen diesen Zwilling, in vielen Kulturen sah man eine Verbindung zwischen ihm und dem Spiegelbild. Es ist nichts anderes als Ka, der altägyptische Doppelgänger, der zusammen mit dem Menschen geboren wird und ihm folgt, sein Schatten, seine Seele oder sein Spiegelbild, das er zu verlieren fürchtet.

Die Spiegel der Seher

                                                                                                                                                                         Der Glanz reflektierender Flächen kann unter Umständen bei entsprechender Seelenverfassung auf den Menschen einen tranceartigen Zustand bewirken, dass er statt sich selber zu sehen, Gesichte und Visionen bekommt. In diesem Fall wirkt der Spiegel als Steigrohr des Unbewussten. Der Seher schaut Dinge, die keine sichtbare Entsprechung besitzen und auch nur von ihm allein erblickt werden können. Für unsere Vorfahren und erst recht für die sogenannten Primitiven waren es wunderbare Prophezeiungen der Geister und Götter.

Das älteste Phänomen dieser Art führt zurück in die Frühzeit, zum Orakelspruch aus dem Wasser. Zu visuellen Erscheinungen konnten sich akustische gesellen, und halluzinatorische Eindrücke wurden oft durch die Beobachtung tatsächlicher Formen verstärkt, wie etwa des Wellenspiels, des durchschimmernden Grundes, der Lichtreflexe oder zufälliger Spiegelungen, in die man das Übrige hineinsah. Älter als die Spiegelschau ist auch die Kristallwahrsagung, das Sehen in blankgeriebenen Steinen. Manchmal genügte auch der Glanz einer Waffe, eines Schildes, Bechers oder einer Schale, sogar der polierte Fingernagel (Onychomantie) konnte Visionen hervorzurufen. Paracelsus fasste alle diese Phänomene unter dem Begriff Nektromantie zusammen.

                                                                                                                                                        Nachweisbar wird die Spiegelschau erst bei den alten Griechen, wo sie zunächst noch hinter der Hydromantie und der Fingernagelschau zurücktritt. In der Spätantike und im byzantinischen Kultkreis wird sie häufiger. Die älteste Erwähnung eines Wahrsagespiegels findet sich bei Aristophanes in seiner Komödie Die Acharner (425 v. Chr.). Der Feldherr Lomachos befragt bevor er in den Krieg gegen Sparta zieht, „des Schildes Gorgo-wölbig Rund“, das er, um den Glanz noch zu verstärken, vorher mit Öl übergießen lässt. Oft ließ man auch Kinder schauen. Denn nur wer reinen Herzens war und den klaren Blick besaß, hielt man zur Prophezeiung befähigt. Von Apuleius erfährt man, dass in Tralles ein Kind, das man durch magische Mittel über den Ausgang des Krieges von Mithridates ( 90 - 93 v. Chr. ) befragte, im Wasser ein Bild von Merkur betrachtete und in einer Prophezeiung von einhundertsechzig Versen voraussagte, was geschehen würde. Ein berühmter Spiegel wird auch von Pausanias im 2. Jh. erwähnt. Vor dem Demeterheiligtum in Patras banden Kranke einen Spiegel an einen dünnen Faden, ließen ihn zur Quelle hinab, so dass der Spiegelrand das Wasser berührte. Danach beteten sie zur Göttin, räucherten und sahen im Spiegel, wie es um ihre Genesung bestellt war. Andere Wasserspiegel gaben in Becken oder Schalen den Zukünftigen bekannt. Ein Brauch, der heute noch am Morgen des Johannistages in Südeuropa praktiziert wird.............................................. … .

Derartige Orakel standen damals noch nicht in Widerspruch zur offiziellen Religion, ergänzten diese vielmehr und wurden meist von jungfräulichen Priesterinnen ausgeführt. Das änderte sich mit dem Christentum. Sämtliche Wahrsagearten wurden aus dem Rahmen der kirchlich zugelassenen Wunder herausgestrichen, insbesondere wurden Wasser-, Kristall-, selbst auch Spiegelwahrsagungen wie überhaupt alles, was eine heidnische, nicht alttestamentliche Überlieferung hatte, verworfen. Die Propheten des alten Bundes und auch Christus hatten ihre Prophezeiungen schließlich aus der Gnade Gottes, bzw. aus eigener göttlicher Natur, und nicht durch Dämpfe aus Erdspalten, Kristalle oder ähnliche Hilfsmittel empfangen..Seit dem späteren Mittelalter wird das Spiegelorakel ( Katoptromantie ), genau wie andere Wahrsagetechniken, immer mehr zu einem Geschäft böser Hexen, Zauberer und Scharlatane. Sie wird verfolgt und gehört zu den verbotenen Künsten, welche Johannes Hartlieb 1456 in seinem vielgelesenen „Buch aller verbotenen Kunst“ zusammengefasst hat, und die dann immer wieder in der Bekämpfung des Hexenwesens gewidmeten Schriften angeprangert werden. Schon im 13. Jahrhundert war, wie die Summa de officiis inquisitionis zitiert, an Beschuldigte die Frage gestellt worden, ob sie „die Erfahrung des Spiegels, Schwertes, Nagels ( polierter Fingernagel ), der Sphära ( Kristallkugel? ) oder des Elfenbeinblattes“.gemacht hätten. Noch im 18. Jahrhundert standen schwere Strafen auf die Wahrsagekunst. Das änderte allerdings nichts daran, dass gerade die Spiegel- und Kristallbefragung bei Hoch und Niedrig zur heimlichen Manie wurde................................. 

Schwangere Frauen wie Tizians Kristallseherin ( ca. 1530 ) hielt man ganz besonders geeignet für Kristallvisionen.
Schwangere Frauen wie Tizians Kristallseherin ( ca. 1530 ) hielt man ganz besonders geeignet für Kristallvisionen.

Ungeachtet des Misskredits, in den der Spiegel durch Schwarzkünstler geriet, es gab immer wieder große Gelehrte, die sich einen freieren Blick auf unser Gerät bewahrt haben. Selbst im hohen Mittelalter. Bei Wilhelm von Auvergne, Bischof von Paris, und übrigens auch bei arabischen Philosophen ( so bei Ibn Chaldoun.), wird die Mantik der glänzenden Gegenstände zunächst einmal in einem schon fast modern anmutenden Sinne subjektiv-psychologisch verstanden. Es ist vielmehr das Temperament des Melancholikers im Sinne der Genielehre des Aristoteles, welchem vermittels solcher Konzentrationsmittel eine überpersönliche Sicht im Sinne Platons gelingen mag; der Melancholiker sieht die Vergangenheit, erhebt sich auch vermittels der Spiegelschau bis zu den ewigen Ideen, bis zu der Wahrheit, deren Aussender die Sonne als göttlicher Lichtspiegel ist. Einflüsterungen von Dämonen unterliegt man nur bei böser egoistischer Anwendung des Spiegels durch niedere Naturen.

                                                                                                                                                                              Immer wieder haben Autoren versucht, Offenbarungen im Spiegel mit natürlichen Ursachen zu erklären. Manche Weisen des Altertums dachten, dass die Seele des Betrachtenden durch den Glanz des betrachteten Gegenstandes zurückgespiegelt wird und dass sich dabei die latente Kraft zur Weissagung entfaltet. Die Seele soll in sich umso mehr Dinge deutlich erkennen, je umfassender und tiefer dieser Vorgang ist..Dem platonischen Denken nach wissen wir alles, ohne zu wissen, dass wir es wissen, es liefert den Schlüssel zu dieser Erkenntnis. Das Wissen muss in uns entdeckt werden wie in einem Brunnen. Der Blick wird durch die Betrachtung heller Gegenstände gesteigert. Ob Spiegelgesichte göttlich oder dämonisch sind, liegt demnach weniger am Spiegel, sondern eher am Betrachter. Sage mir, was sich zeigt und ich sage dir, wer du bist..Zu dieser differenzierteren Einstellung fand man erst in der Renaissance zurück. Leonardo da Vinci konnte in einer buntgefleckten Mauer so ziemlich alles erkennen: „Du kannst dort auch allerlei Schlachten und Gestalten mit lebhaften Gebärden erblicken, ferner seltsame Gesichtszüge und Gewänder und unendlich viele Dinge, die du später in vollkommener und schöner Form wiedergeben kannst.“  Klingt das nicht ganz nach dem Tintenklecks heutiger Psychologen. Fast jede erdenkliche Form kann die Pforte zum Unbewussten öffnen, jenem gewaltigen Meer von Bildern jenseits unseres analythisch-sezierenden Denkens, aus dem alle Spiegelseher schöpften.

 

Literatur: 

Gustav F. Hartlaub: Zauber des Spiegels, München 1951, S. 24 ff., S. 118-139

Jurgis Baltrusaitis: Der Spiegel, Gießen 1996, S. 78-94, S. 211-222

Joseph L. Henderson, in: C.G. Jung: Der Mensch und seine Symbole, Düsseldorf 2009, S. 141 ff.                    Leonardo da Vinci, aus: Malerregeln, in: Tagebücher und Aufzeichnungen, Leipzig, 1952, S. 684 f.                 

 

Bildquellen: wikimedia commons                                                                                                                   Artikel: Nora Thielen

 



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