Schlaf: Die Schwingen der Nacht

Hypnos, der geflügelte Gott des Schlafes, Wandmalerei von der Ägäis-Insel Delos

Seit Tausenden von Jahren gilt der Schlaf als untrennbarer Bestandteil der Natur, als Beweis ihrer Vernunft oder der Weisheit der Götter.

 

Hypnos nannten die alten Griechen ihren Gott des Schlafes, den sie mit Schmetterlingsflügeln schmückten. Es ist ein ruhiger, sanftmütiger Gott; der Großzügige, der Geber genannt. Oft wurde er in den Heiltempeln des Asklepios verehrt, wo er den Kranken Einlass ins Land der Träume gewährte.

 

Einer der ersten, der den Schlaf methodischen Studien unterzog, war Aristoteles, der seine Ideen in „De somno et vigilia“ ( über das Wachen und Schlafen ) zusammentrug. Ihm zufolge sind Schlafen und Wachen Ergebnisse unserer Fähigkeit, die Reize unserer Umwelt wahrzunehmen und zu verstehen und folglich nur für die Arten typisch, die Sinnesorgane besitzen. Dämpfe hielt er für die Ursache des Einschlafens. Dämpfe, die durch die Verdauung in den Kopf steigen, dort kondensieren und abgekühlt ins Herz strömen. Aristoteles, der das Herz für das sensorische Zentrum des Körpers hielt, glaubte, dessen Abkühlung sei die Ursache für den Schlaf. Was die Isolierung des Körpers von den Sinnesorganen angeht, stimmten ihm die griechischen Philosophen und Ärzte zu. Aber im Gegensatz zu Aristoteles betrachteten sie das Gehirn, und nicht das Herz, als Zentrum der Sinnesempfindung. Aufsteigende Verdauungsdämpfe aus dem Magen würden im Gehirn kondensiert, dieses durch das Blockieren der Poren vom übrigen Körper trennen und so zum Einschlafen führen. Diese Auffassung blieb bis in die relative Neuzeit unangefochten. Die einzigen Veränderungen, die diese Auffassung später erfuhr, betraf die Ursachen und Umstände, die der Isolierung des Gehirns vom Körper zugrunde liegen.

 

Trotz technischer Möglichkeiten physischen Phänomenen wie der Hirntätigkeit auf den Grund zu gehen, geben heutige Schlafforscher zu, dass die Beurteilung des Schlafes noch immer unzuverlässig und manchmal sogar erstaunlich falsch ist. Und das mag daran liegen, dass wir beim Einschlafen die Nahtstelle zum Mysterium des Todes berühren, vom Wasser des Flusses Lethe trinken und unsere Erinnerung verlieren. Dabei sind wir im Schlaf äußerst aktiv.  Erinnerungen, Gedanken und Gefühle werden geordnet und Überflüssiges entrümpelt.  Diese Aufräumarbeiten finden in den wohl interessantesten Phasen unseres unbewussten Nachtlebens statt, dem sogenannten REM-Schlaf, der eng mit unseren Träumen verbunden ist.

 

Im Jahre 1953 machten die US-amerikanischen Schlafforscher Aserinsky und Kleitman eine bahnbrechende Entdeckung: Träume tauchen nicht zufällig die ganze Nacht über auf, sondern in einem ganz bestimmten und erkennbaren Schlafstadium. Charakteristisch für dieses Stadium sind schnelle Augenbewegungen bei geschlossenen Lidern (REM = Rapid Eye Movement). Die Methode war äußerst einfach. Der Forscher musste lediglich die ganze Nacht über die Apparate überwachen, die die Hirnstromkurven, die Augenbewegungen und den Muskeltonus der Versuchsperson aufzeichneten. Genau dann, wenn das Aufzeichnungsblatt die typische Konfiguration des REM-Schlafes aufwies, musste er den Schlafenden wecken. In 80 bis 85 Prozent der Fälle konnten die Versuchspersonen klar und ausführlich über ihre Träume berichten.

 

Allerdings stellten die Forscher fest: Obwohl der Traum in einem leicht zugänglichen Gedächtnisspeicher abgelegt wird, verbleibt er nach dem Erwachen nur für sehr kurze Zeit dort. Wenn die Aufmerksamkeit der Versuchsperson von der Traumhandlung abgelenkt oder die Schilderung hinausgezögert wird, schließen sich die Gedächtnisspeicher wieder, so dass sich die Spuren des Traumes verwischen. Das erklärt auch, warum man sich leichter an Träume erinnern kann, wenn man jäh aus dem Schlaf gerissen wird.

 

Noch eines wunderte die Forscher. Warum gaben die Träume so wenig her? Wo blieben die aufregenden Berichte aus den Analysen? Studenten träumten von Vorlesungen, Ärzte von Krankenhäusern, Anwälte vom Gerichtssaal. Warum waren all diese Berichte so viel inhaltsärmer als die, von denen ein Freud zu berichten wusste? Einige Forscher erklärten das Phänomen mit der Befragungsmethode. Die Tatsache, dass der Schläfer mitten aus dem REM-Schlaf geweckt wird, erinnert an einen Kinofilm, den man nicht bis zum Ende sieht. Andere erklärten es so: Der Traum, an den man sich spontan erinnert, ist in der Regel der letzte einer Nacht, und wahrscheinlich im Vergleich zu denen am Anfang der Nacht außergewöhnlich.

 

Und tatsächlich: Man fand heraus, dass sich im Laufe der Nacht eine Entwicklung im Wesen der Träume vollzieht. Nach dem Erwachen aus der ersten Traumperiode ist der Bericht gewöhnlich kurz und handelt von der Gegenwart, in den meisten Fällen fehlt es an einer Handlung und zentralen Charakteren. Wird jemand spät in der Nacht aus dem REM-Schlaf geweckt, sind die Berichte reicher an Einzelheiten und Handlungen. Traumberichte in den frühen Morgenstunden enthalten Details, zentrale Charaktere und Gefühlszustände spielen eine größere Rolle im Vergleich zu den Träumen aus der ersten Nachthälfte. Oftmals beschäftigen sich die Träume mit der frühen Kindheit oder weit in der Vergangenheit liegenden Ereignissen. An diese Träume erinnert sich der Träumer spontan.

Wirklicher als die Wirklichkeit

Morpheus, mächtigster der griechischen Traumgötter, mit der Götterbotin Iris. Pierre Narcisse Guérin, 1811
Morpheus, mächtigster der griech. Traumgötter, mit der Götterbotin Iris. Pierre Narcisse Guérin, 1811

Oneironauten nennt man die Meister unter den Träumern. Geschickt wie die Traumgötter der griechischen Mythologie, die Oneiroi, wissen sie ihr Schiff über das Meer des Unbewussten zu steuern. Selbst bei stürmischer See. Ein bemerkenswerter Träumer, der seine Träume steuern konnte und sich ihrer voll bewusst war, war der Marquis d`Hervey de Saint Denys, ein französischer Professor des 19. Jahrhunderts, der seine Träume vom 13. Lebensjahr an aufzeichnete und dafür von Freud große Bewunderung erntete. Im Jahre 1867 veröffentlichte er anonym seine Erkenntnisse in dem Buch Les Rêves et les moyens de les diriger. Darin schlägt er verschiedene Möglichkeiten der Traumkontrolle vor, die in der Klartraumforschung heute meist mit einbezogen werden.

 

Die Traumforscherin Rosalind Cartwright gehört zu den Pionieren, die das Einflussnehmen auf Träume als Therapiemethode einsetzten. Sie stellte die Hypothese auf, dass Träumer einen bösen Traum erkennen können, während sie sich noch im Traumprozess befinden, und ihn abblocken können. Wenn Träumer es zudem lernen, ihre bösen Träume zu identifizieren, können sie es auch lernen, dem Drehbuch des Traumes eine positivere Richtung zu geben. Damit folgt sie dem Pfad der Schamanen und aller Medizinmänner, von denen keiner je daran gezweifelt hat, dass Träume unserer Alltagsrealität ebenbürtig sind. In seinem Buch Die Reise nach Ixtlan fragt der berühmte Anthropologe Carlos Castañeda den alten Zauberer der Yaqui.-.Indianer: “Wollen Sie denn sagen, Don Juan, dass Träumen Wirklichkeit ist?“ „Natürlich ist es Wirklichkeit,“ antwortete Don Juan. „So wirklich wie das, was wir jetzt gerade tun?“ „Ich kann sagen, dass es vielleicht noch wirklicher ist.“

 

Jeder Schamane weiß, dass er im Traum heiliges Land betritt. Genauso wusste es einst der Kranke, der im Tempelschlaf Asklepios erwartete. In unseren Träumen haben wir auch heute noch Zugang zu wegweisenden Geistern und Göttern: Heilerfiguren können auftauchen, die sich als Boten aus einer anderen Welt offenbaren. Oder allegorische Bilder wie das Licht am Ende des Tunnels. Oft leuchten Szenen nach dem Aufwachen wie Erinnerungen an reales Erleben. In der Forschung werden Erfahrungen, in denen der Schauplatz der inneren Bilder dem Ort der äußeren Wirklichkeit entspricht „falsches Aufwachen“ genannt, ein merkwürdiger Zwischenzustand der Seele, der stets mit einem seltsamen Gefühl des Besonderen verbunden ist. Wie der Schamane unterscheidet auch das Gehirn nicht zwischen Alltagsrealität und imaginierten Bildern. Wenn der Träumer ein heilendes Bild stehen lässt, ohne es skeptisch zu sezieren, kann es aus dem Hintergrund für lange Zeit wirken. Deshalb hütete sich C.G. Jung vor allgemeingültigen Regeln. Jeder Traum sei seine eigene Deutung. 

 

Träume entsprechen der Sehnsucht unserer Seele, einer Seele, die fliegen will. In die Weiten jenseits unserer Vorstellungskraft. Jeder Mensch hat die Anlagen diese Tiefe zu erleben. Jeder hat Zugang zu diesem heiligen Land, um sich vom Geheimnisvollen berühren zu lassen, vielleicht sogar verwandeln zu lassen. Jeder.

 

Der Mensch muss spüren, dass er in einer Welt lebt, die in einer gewissen Hinsicht geheimnisvoll ist, dass in ihr Dinge geschehen und erfahren werden können, die unerklärbar bleiben, und nicht nur solche, die sich innerhalb der Erwartung ereignen. Das Unerwartete und das Unerhörte gehören in diese Welt. Nur dann ist das Leben ganz. Für mich war die Welt von Anfang an unendlich groß und unfasslich.

                                                                                                                                                     C.G. Jung

 


Literatur:                                                                                                                                                                                               Peretz Lavie: Die wundersame Welt des Schlafes, München 1999, S.18 ff, S.91 ff, S.122 ff                                                              Joachim Faulstich: Das heilende Bewusstsein, München 2006, S.187                                                                                               C.G. Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken, Düsseldorf 2009, S.387

Bildquellen: wikimedia commons                                                                                                                                   Artikel: Nora Thielen


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