Wandern: Der uralte Weg nach innen

Pilger. Pieter Bruegel der Ältere, ca. 1550
Pilger. Bruegel d. Ä. ca. 1550

 

Seit Jahrtausenden dient das Wandern der Sinnsuche, in vielen Religionen ist das Wandern selbst Gebet. Durch kaum eine Praxis lässt sich die Aufmerksamkeit natürlicher nach innen verlagern als durch Gehen. Der dänische Philosoph Kierkegaard hat die Erfahrung gemacht, dass er sich jeden Kummer, ja sogar jede Krankheit weggehen konnte.Ich gehe jeden Tag zu meinem Wohlbefinden und entferne mich so von jeder Krankheit. Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen, und ich kenne keinen noch so schweren Kummer, den man nicht weggehen kann.“ 

       

Jeder passionierte Wanderer kennt es: Beim Gehen reguliert sich    der Atem, die Gedanken ordnen sich, die Seele kommt wieder mit.  Schritt  für Schritt erobern wir uns das menschliche Maß zurück. 

                                                                                                                    Das ständige Gehen, die gleichmäßige Bewegung, der man sich überlassen kann, ohne viel zu denken, kann zu einem Reinigungsweg werden. Man kann vieles abfallen lassen. Innere Unruhe legt sich. Man geht sich frei. Von aller Unrast, allem Unmut, allem Unrat der Seele.  Von daher ist in vielen Religionen das Gehen selbst Gebet. Man wandert zu etwas Heiligem, doch gleichzeitig ist man immer auch auf der Reise zu sich selbst. Und dieser Weg, die Erfahrung des Auf-dem-Wege-Seins ist der wahre Grund des Pilgerns und unterscheidet es von allen anderen Formen der Fortbewegung..

Frühe Pilger: Für sich und Gott allein

Landschaft mit Pilger, Karl Friedrich Schinkel, ca. 1813
Landschaft mit Pilger, Karl Friedrich Schinkel, ca. 1813

 

Schon vom Wort her hängen „wandern“ und „wandeln“, „sich verwandeln“ eng zusammen. Wandern bedeutet weitergehen. Mit jedem Schritt bewegt sich etwas. Auch innerlich. „Wallen“, das Grundwort von „Wallfahrt“, bezeichnet neben der Bewegung von Ort zu Ort auch die Bewegung des quellenden und sprudelnden Wassers. Die innere Reise zu den spirituellen Quellen der Existenz ist das eigentliche Ziel der „peregrinatio sacra".

 

 

Die alten Griechen glaubten, die Götter würden an bestimmten Orten wie den Heilstätten des Asklepios oder den Tempeln des Apoll ihre besondere Wirkkraft entfalten. Dieser Glaube hielt sich auch im Christentum. Man meinte, die Nähe heiliger Menschen zu Gott zeige sich gerade an ihren Gräbern. Daher ist die „peregrinatio spiritualis“ im christlichen Europa eng mit dem Reliquienkult verknüpft. Dieser setzte um 600 ein und hatte einen frühen Höhepunkt in der Karolingerzeit um 800. Die wichtigsten Routen führten nach Rom, über Venedig auf dem Seeweg nach Jerusalem und nach Santiago de Compostela im nordwestlichen Zipfel der Iberischen Halbinsel. Vor dem Aufbruch beglich man seine Schulden, machte sein Testament, beichtete und empfing den Pilgersegen.

 

Pilger hatten ihre besondere Ausrüstung. Sie gingen in Schnürstiefeln oder Sandalen. Eine weite, aufgeschlitzte Pelerine und ein breitkrempiger Hut schützten vor Wind und Wetter. Ein kleiner Lederbeutel hing an einem Riemen über der Schulter. Man nahm nur wenig Proviant mit. Und der Beutel war stets offen, denn man war bereit zu geben und zu nehmen. „Geht leicht!“ So hieß die Regel.

 

Neben den Mönchen, die ihr Leben lang in einer Zelle oder der Einsiedelei blieben, gab es in der

Antike und im frühen Mittelalter immer auch Mönche, die das ständige Auf-der-Wanderschaft-sein als ihr Ideal ansahen. Bewusst suchten sie das Inkognito, die Einsamkeit, losgelöst von allen Bindungen, um allein für Gott zu leben, sibi solique deo, für sich und Gott allein. Wandermönche verließen nicht bloß ihre Heimat, sie suchten sich auch keine neue. Sie blieben heimatlos. Und damit rechtlos.


Die Lateiner übersetzten mit dem Wort peregrinatio das griechische Wort: xeniteia. Xenos meint im Griechischen den Fremden, den Ausländer, aber auch den Gastfreund. Der Fremde, andersartig, schwer durchschaubar, beängstigend, ist anfangs immer auch der Feind, daher vogelfrei. In-der Fremde-sein bedeutete daher auch Im-Elend-sein. Darum war es für alle antiken Religionen ein Gebot, jemanden auf der Wanderschaft als den rechtlosen Armen aufzunehmen. Der Fremde stand unter dem besonderen Schutz der Götter. Ja, im Wanderer kamen die Götter oft selbst zu den Menschen. Dieses Motiv findet sich in zahlreichen antiken Sagen, etwa in der von Philemon und Baucis.

 

Der archetypische Wandlungsweg

Mittelalterliche Pilger waren meist 9 Monate unterwegs. 4 Monate wanderten sie jeweils hin und zurück.  1 Monat blieben sie am Ziel. 9 Monate brauchten sie für die neue Geburt, die sie sich von dieser Fußreise erhofften. Der Weg ist das Ziel, heißt es in den taoistischen und buddhistischen Traditionen. Der innige Wunsch und die erwartungsvolle Spannung den bedeutsamen Ort der Kraft zu erreichen, ist wesentlicher Teil jeder Wanderexerzitie. Aber Auf-dem-Wege-sein bedeutet mehr: Offen sein für Wechselfälle, für unerwartete Erlebnisse und überraschende Begegnungen, für Windungen und Wendungen des Weges. Auch Irrwege und widrige Wetterereignisse und damit verbundene Strapazen nimmt man tief in sein Bewusstsein auf. Sie sind sinnbildlich für die Unsicherheit und das Unvorhersehbare des Lebensweges.

 

Sinn“ kommt von dem indogermanischen Wort „sent“ und bedeutet ursprünglich gehen, reisen, eine Fährte suchen, eine Richtung nehmen. Das Ziel unseres Gehens ist letztlich nie innerweltlich. Jeder Weg ist ein Wandlungsweg. Die alten Einweihungsriten waren ursprünglich Fußwege. Der archetypische Mysterienweg führt zu Kultstätten tief ins Innere der Berge. Die Labyrinthe, die man noch in mittelalterlichen Kathedralen findet, künden noch von dieser frühzeitlichen Initiation. Innere Wandlung ist nur auf einem Einweihungsweg zu erreichen, der durch ein gefährliches Labyrinth ohne Orientierung führt. Der Gehende und der Weg werden eins. Das Gehen aller Verschlingungen und Kehren führt zur Individuation, zum Ganzwerden, zum Einswerden mit sich selbst und dem Göttlichen.

 

Ende des 12. Jahrhunderts taucht der Heilige Gral als Motiv in der westeuropäischen Literatur auf. Der Gral symbolisiert die heiligen Dinge, das stets zu erstrebende und doch nur durch göttliche Gnade zu erlangende höchste Ziel. Wolfram von Eschenbachs Parzival handelt vom Auf-dem-Weg-sein, der stetigen lebenslangen Suche. Jede Annäherung an den Gralsbezirk ist voller Gefahren und Verlockungen, unvorhergesehener Prüfungen, Strapazen und Bewährungsproben. Es gibt keinen leichten Weg. Und unter der Vielzahl von Wegen, die der Pilger zwar frei wählen kann, führt nur einer zum Ziel. An den Weggabelungen, den Scheidewegen, ist immer die Entscheidung für den schmalen engen Pfad die richtige. Niemals die für die breite und bequeme Straße. Parzival ist Ritter. Seinem Stand gemäß reitet er. Selbst im unwegsamen Gelände. Aber er lernt, dass es Ziele gibt, die man nur zu Fuß erreichen kann. „Der Homo viator, der Wanderer“, schreibt Ulrich Grober, „ist ein aktiv Suchender. Aber der Weg trägt, führt und leitet. Ihm selbst wohnt eine verlässliche Kraft inne, die sich ihm vom Ziel her überträgt.“

 

Wenn man sich fragt, warum in allen Religionen der Weg als Bild für das menschliche Leben genommen wird, so wird man entdecken, dass die Erfahrung, die Menschen auf dem Wege gemacht haben und immer noch machen, so tief gehen, dass sie für die menschliche Existenz schlechthin gelten. Auf der Via Sancta geht jeder für sich, aber in den Spuren all derer, die vor einem gingen.

 

Wenn die Wanderung gelingt, ist man dem Geheimnis des Menschseins ein Stück näher gekommen. Vielleicht hat man hat eine Offenbarung erlebt, dem Leben eine neue Richtung gegeben, kehrt als erneuerter, reiferer Mensch zurück. In jedem Fall aber ist man sich selbst ein Stück näher gekommen. Wer Mensch sein will, muss wandern, sich wandeln, weitergehen.... „Wohin denn gehen wir?“ fragt der Wanderer Heinrich am Ende von Novalis` Romanfragment. Und das Mädchen Zyane, das ihm auf dem schmalen Fußstieg hoch ins Gebirge begegnet, antwortet: „Immer nach Hause.“

 

 

Literatur:                                                                                                                                                          Ulrich Grober: Vom Wandern, 2006, S.202 ff.

Anselm Grün: Auf dem Wege, 1983, S.21 ff., S.59 f. 

Wolfgang von Eschenbach: Parzival, Zeno.org

Novalis: Heinrich von Ofterdingen, 2. Teil: Die Erfüllung,1802, Projekt Gutenberg-De

Søren Kierkegaard, in: Anselm Grün a.a.O., 1983, S.23 f.

                                                                                                                                                                 Bildquellen: wikimedia commons                                                                                                                             Artikel: Nora Thielen                                             


Dieser Artikel könnte Sie auch interessieren: Entschleunigung: Vom kostbaren Gut der Zeit Bloganzeige

Kommentar schreiben

Kommentare: 0